Berliner Label-Steckbrief: bohemian drips

field notes #11

1. März 2019 | Redaktion

bohemian drips frontcover
©bohemian drips

Was macht Euer Label aus?

Wir konzentrieren uns auf die Produktion und Veröffentlichung von Raum-Spezifischen Platten, die wir zu großen Teilen via Kunstkopf Technologie in Räumen mit sehr spezifischer Akustik aufnehmen. Wir haben u.a. schon im Kesselhaus des KINDL Zentrum für Zeitgenössische Kunst, noch lange vor Öffnung der Galerie als solche – mit einem Free Jazz Trio aus Istanbul gearbeitet, so wie in den alten Wasserspeichern am Kollwitzplatz, wo wir auch seit 2017 das Festival SPEICHER veranstalten. Andere Veröffentlichungen wie z.B. Ivan Paz »Visions Of Space« arbeiten mit einem abstrakten Konzept von Raum – in diesem Falle einer künstlichen Intelligenz, die auf Basis von Algorithmen Paz' Musik interpretieren – der mexikanische Produzent Ian Medina hat diese Music dann aus der Programmiersprache durch eine »Wall of Amps« vom Digitalen ins Physische geholt. Unsere letzte Veröffentlichung ist das Stück »Walls Will Fall – The 49 Trumpets of Jericho« – eine Komposition des libanesischen Echtzeitmusikers Mazen Kerbaj, der mit 49 Trompeter*innen im Großen Wasserspeicher von Pankow arbeitete. Ganz zu Anfang stand einfach die Idee: Wir wollen den Raum in das Zentrum des Produktionsprozesses stellen und damit in der Prä-produktion arbeiten, nicht in der »Post-« und den Künstler*innen einen monumentalen Raum geben, in dem sie ihre Idee entwickeln und entfalten können. Durch die binaurale 3D Sound Produktion beginnt das Arrangement der Produktion quasi schon während der Aufnahme selbst. Wir sind daher in dem Sinne kein klassisches Label, das nur veröffentlicht – wir sind mit den Musiker*innen zusammen Teil der Produktion.

Welche Musik kann man mit Euch entdecken?

Unser musikalisches Spektrum ist weit gesteckt, da wir uns ungern in vorgegebene Kategorien, Genregrenzen oder Szenen betten möchten – selbstverständlich ziehen wir auch logische Schlüsse zwischen unseren Katalognummern, à la »auf dieses sollte jenes folgen« oder »im Gesamtbild des Katalogs ist es durchaus sinnvoll etc.« – aber wir schätzen und ehren den Bruch mit dem Gegebenen. Ein gutes Beispiel ist »The Fierce People« von Mystical Communication Service – eine einfache aber sehr bestimmte Heavy-Psychedelic-Rock Platte – oder die, vor allem im Rückblick, doch sehr eklektische Zusammenstellung unserer ersten Veröffentlichung »Zuhause im Weltall« mit sechs verschiedenen Künstler*innen. Wichtig ist für uns, so abgedroschen das klingt, das gewisse Etwas – Etwas, das man selbst so noch nicht gehört hat, aber unbedingt in seinem Plattenregal haben möchte. Letztlich finden sich auf bohemian drips. verschiedenste Strömungen experimenteller Musik, wie wir sie verstehen und produzieren.

Welche Künstler*innen sind bei Euch vertreten?

Wir haben mit Jochen Arbeit, Mazen Kerbaj, Kulku, Marika (ein Spin Off der Band Konstrukt), Ivan Paz, Berke Can Özkan, Mystical Communication Service, Anklepants und einigen mehr gearbeitet. Wir unterscheiden bei unseren Veröffentlichung zwischen Studioveröffentlichungen, die zumeist  auch unter unserer Regie entstanden sind, oder binauralen Produktionen, die angefangen von der Suche nach dem passenden Ort bzw. Raum, bis hin zur Organisation, der Entwicklung des Materials, dem Recording und der Produktion, durch unsere Hand laufen. Da wir aber seit jeher auch Konzertreihen in Off-Locations veranstalten, haben u.a. auch Richard Scott, Axel Dörner, JD Zazie, Wilted Woman, Mia Dyberg oder Marcello Busato bei uns gespielt.

Eure erste Platte?

Unsere erste Platte wurde 2014 veröffentlicht – es ist eine Compilation mit dem Titel »Zuhause im Weltall« die wir in einem ca. 60 m langem Tunnel unter dem Rollberg Areal aufgenommen haben. Bis auf zehn Restexemplare ist die Vinyl restlos ausverkauft.

Welche Aufnahme muss man gehört haben?

Da wir im Kern der Label-Organisation vier Personen sind, ist es natürlich schwer für alle zu sprechen – eine der stärksten Aufnahmen ist sicherlich »Nach der Flut« von Kulku, ein Stück für mundgeblasene Orgelpfeifen im Großen Wasserspeicher in Pankow. Auf der esoterisch angehauchten Platte »Die Milchstraße Flockt«, die im Schloss Freudenberg aufgenommen wurde, finden sich fantastische Aufnahmen sehr obskurer Instrumente, wie einem Kristall Bachét. Mein persönlicher Tipp ist »Komet Kind« ein unfassbar schweres elektronisches Stück von Ivan Paz, das in Richtung Power Electronics tendiert, aber in seinem Arrangement weit über die Grenzen von Computer Music und Harsh Noise hinaus schießt.

Wie gut verkauft sich zeitgenössische Musik?

Es ist offensichtlich ein Nischenmarkt, doch es lässt sich beobachten, dass das Interesse an experimenteller Musik steigt – das mag zu  Teilen auch an der Mainstreamisierung der elektronischen Musik durch die Clubkultur liegen – angefangen mit Ambient Klassikern wie Midori Takadas »Through The Looking Glass« bis hin zu Offensichtlichkeiten wie Steve Reich – hierdurch erschließt sich sicherlich ein neues Publikum für zeitgenössische Musik. Das aber nur als grobe Vermutung. Wir als Label haben vor allem durch unsere hochqualitative und graphische Konsistenz ein Produkt geschaffen, das, so glauben wir zumindest, bei unseren Kund*innen inzwischen Vertrauen weckt und damit den Künstler*innen die mit uns arbeiten eine gute Heimat für ihr Schaffen gibt. Wichtig ist uns auch, dass wir natürlich offensichtlich an den Rändern zeitgenössischer oder neuer Musik wandeln, und uns aber nicht wirklich in gewisse Szenen eingliedern lassen möchten – das Etablierte wird unserer Meinung oft schnell selbstgenügsam und vermisst durch Etikette und Schranken oftmals einen frischen Entdeckergeist.

Und überhaupt, warum heute noch ein Label?

Wie bereits zuvor erwähnt ist unsere Idee die Verknüpfung von Raum und Klang, also von einem*r bestimmten Musiker*in oder einer Gruppe mit einem bestimmten Raum – das ist unser Angebot an den*ie Musiker*in als Plattenlabel, unser Alleinstellungsmerkmal.

Vor- oder Nachteil, in Berlin zu sein?

Berlin verändert sich ja offensichtlich aktuell wieder einmal stark, ist aber sicherlich immer in Veränderung – all die Buzzwörter wie »Gentrifizierung« wollen wir hier mal umschiffen – das sind urbane Prozesse, wie sie in allen anderen Großstädten auch passieren – dennoch, auch wenn Berlin in seiner fast schon erdrückenden Vielfalt oft zwischen kreativem Katalysator und Hemmschwelle schwankt, gibt es hier freilich eine große Szene, fantastische Möglichkeiten, etablierte Strukturen, die es uns ermöglichen, von hier aus leichter zu operieren als aus anderen Städten. Dennoch ist bohemian drips nicht an Berlin gebunden – einer unserer Träume ist es, mit dem Label zu reisen und in anderen Ländern spannende Orte zu finden um dort mit Musiker*innen aufzunehmen.

Liebster Klang-Musikort in Berlin?

Wir haben für uns 2017 den perfekten Ort gefunden, bereiten darüber aber mit zwinkerndem Auge den Mantel des Schweigens – eine der schönsten Konzertreihen im Klangkunst Untergrund ist sicherlich Marcello Busatos »Starling Murmuration« im Loophole. Hier trifft Punk auf Jazzpublikum, an Dienstagabenden, die gerne mal bis in den Mittwochmorgen reichen. Richten wir die Frage auf einen Ort mit speziellem Klang – dann kann ich für mich persönlich sagen, es lohnt sich wirklich mal IN einen der alten Sudkessel im Sudhaus der KINDL Brauerei zu klettern. 

Letzter und nächster Release?

Mazen Kerbaj – Walls Will Fall – The 49 Trumpets of Jericho

Unser nächstes Release wird eine LP mit Reworks des Konzertes von Robin Haywards Trio »Microtub« aus dem Großen Wasserspeicher sein, das im Rahmen unseres Festivals SPEICHER II aufgezeichnet wurde.

Nächste Veranstaltung mit Künstler*innen des Labels?

Hier empfiehlt es sich, uns auf facebook zu folgen – wir können aber bereits ankündigen, dass wir planen, im Sommer 2019 SPEICHER III durchzuführen.

 

Website: bohemiandrips.de

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