Ausweitung der Kampfzone
1. März 2020 | Yana Prinsloo
Wie die Rechercheagentur Forensic Architecture die Grenzen zwischen Kunsterfahrung und Faktensuche verwirft.
1. März 2020 | Yana Prinsloo
Wie die Rechercheagentur Forensic Architecture die Grenzen zwischen Kunsterfahrung und Faktensuche verwirft.
Dass Künstler*innen längst nicht mehr nur im Sinne der L’art pour l’art im freien Kunstraum kreativ agieren, sondern sich durch ihr politisches Engagement oder einen Aufruf zum Aktivismus positionieren und so die Realpolitik kritisieren, ist inzwischen ein Selbstverständnis der Gegenwartskunst. Die 2011 gegründete Kunst- und Rechercheagentur Forensic Architecture dreht das Rad noch ein Stückchen weiter: In einer Mischung aus künstlerischer und detektivischer Expertise versucht sie politische Morde und Menschenrechtsverletzungen durch Staaten aufzuklären. Ihre Arbeiten waren letztes Jahr für den Turner-Preis nominiert, die wichtigste britische Auszeichnung für moderne Kunst.
Klassischer Archetyp des Detektivs ist wohl die Kunstfigur Sherlock Holmes. Im 19. Jahrhundert erschuf der Schriftsteller Arthur Conan Doyle mit ihm einen Ermittler des Dazwischen: zwischen faktischer Kriminalistik und poetischer Virtuosität. In der Gegenwartskunst zeigen sich neue Tendenzen, die kriminalistische Expertise mit künstlerischen Mitteln zu verbinden. Im Synergieeffekt dieser beiden Komponenten dient das Kunstwerk dazu, eine zweite Wahrheit zur Diskussion zu stellen. Während Holmes also in London seine Fälle zu den Akten legte, dokumentieren heute die Künstler*innen des Forensic Architecture-Kollektivs ihre Beweismittel in aufwendigen juristisch validen Berichten oder in dreidimensionalen beweisführenden Simulationen. Sie werten Zeitzeugen-Interviews, Tatortfotos oder ihnen von Vertrauensleuten zugespielte Materialien aus.
Dabei ist Forensic Architecture eine unabhängige Forschergruppe einer Londoner Universität, die in ihren digitalen und realen Reenactments das Geschehen an realen Tatorten rekonstruiert. Die architektonische Detektivagentur mit einem Team von Architekt*innen, Jurist*innen, Klangkünstler*innen und Dokumentarfilmer*innen ist mehr als eine Recherchegruppe. Durch die von der Architektur eines Gebäudes vorgegebenen Möglichkeiten für bestimmte Szenarien versuchen sie staatliche Ermittlungsergebnisse zu hinterfragen und als anzweifelbar zu beweisen, um eine protestierende Gegenöffentlichkeit zu formieren. […]
Der Beiruter Klangkünstler Lawrence Abu Hamdan ist ein Mitglied bei Forensic Architecture. Er untersucht die politischen Auswirkungen des Zuhörens. Sich selbst bezeichnet Hamdan nicht nur als Künstler, sondern auch als einen unabhängigen Audioermittler oder Klangdetektiv. Seine Arbeiten werden nicht nur in Museen oder Galerien rezipiert, sondern auch in Anwaltsbüros und Gerichtsräumen thematisiert. In der Arbeit »Earshot« von 2016 untersuchte er die Erschießung der zwei Jugendlichen Nadeem Nawara und Mohamad Abu Daher durch israelische Soldaten im Jahre 2014. Angefragt von der Menschenrechtsorganisation Defence for Children, analysierte der Künstler den Klang der Schüsse, um zu beweisen, dass die Soldaten statt Gummigeschosse manipulierte und echte Munition auf die unbewaffneten Teenager feuerten. Seine akustische Analyse, in der Hamdan die Einschussfrequenz der Patronen visualisierte, wurde später als zentrales Beweisstück für das rechtswidrige Handeln der Soldaten eingesetzt und wiederum als Kunstobjekt in Ausstellungsräumen wie dem Portikus in Frankfurt a. M. ausgestellt. Hamdan selbst schreibt über sein Expertenwissen: »Für die Arbeit an forensischen Audioermittlungen qualifiziert mich meine Ausbildung als Musiker. Da ich mit der Anatomie von Audioproduktionen vertraut bin, kenne ich sowohl die Ursachen verschiedener Arten von Verzerrungen und Rauschen als auch die verschiedenen Möglichkeiten, wie sich die spezifischen Frequenzen eines bestimmten Klangs heute von Audiosoftware visualisieren lassen.« […]
Was Hamdan besonders betont, ist der erweiterte Blickwinkel durch die künstlerische Ausbildung. Hamdan klärt Verbrechen nicht auf, er erhört sie an den Grenzen der Wahrnehmung. Die kritische Kraft seiner Arbeiten entsteht durch seine hybride Annäherung an seine (Kunst-)Projekte: als Technikexperte und Klangkünstler. Das Verhältnis zwischen Kriminalistik und künstlerischer Virtuosität erscheint also umgekehrt: Die Kunst wird zum Werkzeug der Spurensuche.
Die internationalen Erfolge der Recherchegruppe Forensic Architecture lassen einen Trend der Gegenwartskunst erkennen. Die drei letzten Großausstellungen zur zeitgenössischen Kunst – documenta 14, Skulptur Projekte Münster und die Biennale in Venedig – haben vor allem eines gezeigt: Gegenwärtige Künstler*innen verzichten auf rein künstlerische Bezugssysteme und justieren ihre künstlerischen Mittel neu. Unterscheidungen zwischen Kunst und Lebenswelt sind längst überholte Differenzierungsversuche. Einerseits problematisieren die Künstler*innen Orte der Kunst wie Museen und Konzertsäle, andererseits stellen sie gegenwärtig ihr künstlerisches Produkt als Prozess oder kollektives Schaffen zur Disposition. […] Diese Neujustierung erfordert eine Reflexion der ästhetischen Erfahrung in künstlerischen Arbeiten, die sich als Intervention gesellschaftlichen Lebens verstehen. So zeigt sich die Ausweitung der Kunstzone in vielen Synergien, die im Bereich der Artistic Research anzusiedeln sind, d. h. bei künstlerischen Arbeitsweisen, die das Interesse von Kunst und Wissenschaft an Erkenntnisgewinn und Wissensvermehrung teilen. Alle diese künstlerischen Produkte reflektieren die Kunstfreiheit neu und erkennen das Angebot zum kritischen Denken.
Dieser Prozess findet sich auch im Bereich der Klangkunst. Im Fall des Kollektivs der Forensic Architecture lässt sich sagen, dass ihre Arbeiten neue Handlungsdispositive und Möglichkeitsräume der Kunst entwickeln. Durch die Fusion von künstlerischen und detektivischen Methoden erweitert sich ihr Wirkungsgebiet auf Interventionen in der Rechtsprechung zwecks Aufklärung von Unrecht. Sie partizipieren künstlerisch und konkret. Ihre Kunst weitet damit die »Kampfzone« aus. Ihre Arbeiten könnten auch als Statement zur Frage nach Kunst und Kunstwerk verstanden werden: Es interessiert weniger der künstlerische Eigensinn als die soziale Wirkung.
– Yana Prinsloo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft an der JGU Mainz und Jung-Redakteurin für die 3sat-Sendung »Kulturzeit«.
Lawrence Abu Hamdan »The Voice Before the Law« noch bis zum 29.03.2020 Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart
Mit Dank an die Neue Zeitschrift für Musik, in welcher der Text in voller Länge im Heft 1/2019, S. 36–39, erschien.
Lawrence Abu Hamdan: »Hear, Hear«, in: Texte zur Kunst 2017/27, S. 81.